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Hinzugefügt am 05. September 2018
Theaterrezension: „Woyzeck“ (Schauspiel Frankfurt am 04. Juni 2018)
Die Sitze vibrieren durch die laute Live-Musik, das Stroboskop blitzt, ein digitaler Vorhang gleitet nach vorne – es wird schnell klar: diese Inszenierung ist ganz anders als erwartet. Der Regisseur Roger Vontobel hat sich am Schauspiel Frankfurt an den Klassiker „Woyzeck“ getraut und bedient sich vieler außergewöhnlicher Elemente, um das Drama möglichst authentisch und zeitgemäß zu inszenieren. Das Stück handelt von einem Soldaten namens Woyzeck, der versucht, mit allen Mitteln seine Frau Marie, ihr gemeinsames uneheliches Kind und sich selbst zu versorgen und dafür genug Geld zu verdienen. Er wird von seinen Vorgesetzten unwürdig und herablassend behandelt und tötet am Ende aus Verzweiflung seine Geliebte Marie.
Georg Büchner verfasst das Dramenfragment von 1836 bis zu seinem frühen Tod, ein Jahr später. Dementsprechend sind sowohl die gesellschaftlichen Umstände sowie die Sprache von der Zeit des 19. Jahrhunderts geprägt. Der Autor schreibt im realistischen Stil, d.h. er stellt die Gesellschaft so dar, wie sie aus seiner Sicht ist und kritisiert damit die gesellschaftlichen Bedrängnisse, denen die arme Bevölkerung ausgesetzt ist. Büchner ist ein Dichter des Vormärz und das Drama zeigt seine Intention, die gegenwärtigen Nöte, wie die strukturelle Armut der Bevölkerung, zu veranschaulichen.
Roger Vontobel versucht mit seiner aktuellen Inszenierung vom 4. Juni 2018 (Premiere am 30.09.2017) dem Werk Moderne zu verleihen. Dies fängt gleich bei der Besetzung an, denn die Hauptfigur Woyzeck, ein unter starker Armut leidender Soldat, der für seine Geliebte Marie und den gemeinsamen Sohn erniedrigende Arbeiten verrichtet, also eine eigentlich sehr männliche Figur (zumindest aus der Sichtweise der Entstehungszeit des Dramas), besetzt er mit einer Frau, nämlich Jana Schulz. Diese Entscheidung erweist sich als richtig, denn Jana Schulz versteht es durch ihr schauspielerisches Können, Woyzeck in einer hingebungsvollen, emotionalen und überaus authentischen Weise auf der Bühne zu verkörpern. Gleichzeitig dient diese Besetzung der Schaffung der angesprochenen Aktualität, denn sie zeigt, dass Woyzecks Schicksal auch in der heutigen Zeit geschehen kann, unabhängig vom Geschlecht.
Dieser Gedanke der Aktualität findet sich auch in der Auswahl der Kostüme wieder, denn Vontobel benutzt bei einzelnen Figuren moderne und einprägende Kleidung, wie zum Beispiel beim Tambourmajor (André Meyer) einen Pelzmantel und gegen Ende auch bei Marie (Friederike Ott) ein modernes Partykleid. Der Mantel des Tambourmajors erinnert stark an den eines Zuhälters, was einerseits amüsant, andererseits kritisch beim Publikum ankommen kann, denn es verändert das äußerliche Bild des Stückes, kommt doch ein weiteres damaliges gesellschaftliches Problem, nämlich die sexuelle Unterdrückung der Frau, zu den sonstigen Kritikpunkten hinzu, und stellt damit eine Erweiterung des gesamten Werkes „Woyzeck“ dar.
Das nächste außergewöhnliche Element ist das Bühnenbild, denn hier entsteht im ersten Moment der Eindruck, es gäbe es kaum eines. Doch dann erscheint auf einem großen, digitalen Vorhang mitten auf der Bühne das erste Live-Video und es wirkt plötzlich so, als ob die übrigen Charaktere, nämlich Marie, der Doktor, der Hauptmann, Andres, der Tambourmajor, der Unteroffizier und Magareth, übergroß vor Woyzeck stehen würden, wenn sie ihn provozieren, hänseln und ihm Angst einflößen. Dadurch wird die Verwirrung Woyzecks aufgrund von Mangelernährung ebenso deutlich gemacht wie die Übermacht der Gesellschaft, welche durch die genannten Figuren repräsentiert wird. Dies ist für den Rezipienten allerdings erst nach der Vorführung erkenntlich, da diese Einspielungen oft laut und unübersichtlich sind. Der digitale Vorhang stellt jedoch gerade für junge Menschen wie Schüler ein Erkennungsmerkmal dar, denn er wird geschickt an verschiedenen Stellen durch Vor- und Zurückbewegungen benutzt, um Woyzecks Welt auch optisch auf der Bühne einzuengen und hat aufgrund seiner Größe und Originalität einen Erinnerungswert.
Der Kampf Woyzecks gegen die Gesellschaft wird durch dieses Bühnenbild auch deutlich gemacht, denn Woyzeck bewegt sich auf einer sich permanent drehenden Bühne. Wenn Woyzeck den Hauptmann rasiert, also selbst wenn er für ihn eine Arbeit verrichtet, muss der Protagonist des Stückes gegen die Drehrichtung der Bühne laufen und sogar den Hauptmann auf seinem Drehstuhl schieben, was außerdem zeigt, wie hart die Gesellschaft Woyzecks Armut und Verwirrung ausnutzt.
Bemerkenswert ist zudem, dass die Musik live entsteht, genau wie die Töne, beispielsweise des Schnitzens, eine weitere stupide Arbeit, die Woyzeck erledigen muss, was eine Besonderheit darstellt, da der Zuschauer hiermit dem Geschehen deutlich näher rückt.
Vontobel schafft es mit all den genannten Elementen, „Woyzeck“ zeitgemäß und aktuell zu inszenieren und dadurch auszudrücken, dass gesellschaftliche Phänomene, wie Ausgrenzung, Ausnutzung, Armut und der eigene Kampf dagegen, so wie sie auch Woyzeck widerfahren, auch heute noch existieren.
Fotos mit freundlicher Genehmigung von Arno Declair
Eingestellt von Kyra Kayser / Paul Kaltwasser/ Fotos: Arno Declair/ Bn