Wutbürgerlich kochen - eine echte Herausforderung!
Hinzugefügt am 12. Juli 2021
Dass Schule für Schüler manchmal unerträglich sein muss, dass konnte ich mir auch als Lehrer schon öfter vorstellen, manchmal selbst bei eigenen misslungenen Stunden. Dass es aber mal so unerträglich werden könnte, dass ich selbst am liebsten im Erdboden versinken wollte, soweit ist es bisher noch nicht gekommen. Zumindest nicht bis zum vergangenen Donnerstag. Da kam Astrid Sacher, alias Ina N. und veranstaltete für die Sozialkundeleistungskurse der MSS einen Kochkurs zur gesunden Ernährung - zumindest sollten das alle glauben.
Wir Lehrer waren selbstverständlich eingeweiht, dass das, was den Schülern heute aufgetischt wurde, kein Kochkurs sondern verdecktes Theater sein würde. Und dass es im Kern um das Thema Alltagsrassismus gehen würde. Um die kleinen, unbedachten Sprüche, die viele von uns aus dem eigenen Umfeld kennen und die sicher nicht ganz so ernst gemeint sind, vielleicht ja sogar witzig sein sollen. Doch die Wucht und die zeitliche Dichte, mit der Ina N. von Happy Cooking diese Sprüche auf der Bühne der Mensa in die Runde rief, ohne sich scheinbar selbst über deren Wirkung bewusst zu sein, waren schwer zu ertragen - auch für uns Lehrerinnen und Lehrer.
Und so erzählte Ina N. beim Zwiebelschneiden von ihrem Neffen Uwe und seinen zweifelhaften Aussagen über Ausländer und Einwanderer, über angebliche Begrüßungsgelder für „Heerscharen“ von Einwanderern und die Gefahr einer „Überfremdung“ Deutschlands oder über die aus ihrer Sicht unerfreuliche Entwicklung unserer Gesellschaft zu dem, was sie Multi-Kulti nennt. Dabei wird deutlich, wie sehr Ina, die angeblich selbst mal einen eigenen Imbiss besessen hat, und sich jetzt mit Kochkursen über Wasser halten muss, um ihre kleine Wohnung zu finanzieren, Verliererin dieses gesellschaftlichen Wandels ist. Auf der Suche nach den Schuldigen kommen ihrem Neffen Uwe, der eigentlich stramm rechts ist, Ausländer und Menschen mit Migrationshintergrund dabei gerade recht. Ina selbst ist nicht wirklich politisch, schätzt ihren Neffen, der sich auch in einem Verein für “Heimatschutz“ engagiert, aber sehr.
Und während Ina eine unangepasste und zum Teil offen rassistische und verletzende Aussage nach der anderen abfeuert, bleibt dem Zuschauer im Publikum dabei das verlegene Lachen immer mehr im Halse stecken und prägt sich im weiteren Verlauf des Stückes aus zu einem Gefühl des körperlichen Unwohlseins. Vielleicht ist es so zu erklären, dass die Schülerinnen und Schüler, ob der Absurdität des ihnen dargebotenen Theaters irgendwann nicht mehr anders können, als offen zu protestieren. Plötzlich steht eine Schülerin meines Leistungskurses auf und kommt auf mich zu. Den Tränen nahe bekundet sie, dass sie das nicht länger aushalten könne. Die Aussagen empfinde sie als grob verletzend, auch wenn sie selbst ja gar nicht davon betroffen sei. Wenig später drehen sich zwei weitere Schülerinnen zu uns Lehrern um und rufen laut durch den Raum, ob es denn in Ordnung sei, wenn sie jetzt gingen. Ich schaue betreten unter mich und deute ein Kopfschütteln an. In der ersten Reihe platzt es aus einem Schüler heraus: „Was Sie da sagen, ist rassistisch!“. Andere Schüler stimmen zu. Kochspezifische Exkurse zu den Reifegraden von Paprika oder zur toxischen Wirkung bitterer Zucchini wirken gegen Ende des Stückes nur noch absurd - zu schwer wiegen die vorher getroffenen Aussagen. Und als am Ende des Stückes auch die naive Ina versteht, dass ihr Neffe Uwe ein krimineller Neonazi ist und sie daraufhin verwirrt die Bühne verlässt, bleibt der ansonsten obligatorische Applaus am Ende einer Theatervorstellung aus. Es bleibt still im Publikum - bis Astrid Sacher zurück auf die Bühne kommt.
In der dann folgenden halben Stunde erklärt sie ihr Stück und versucht das Entsetzen wieder einzufangen. Die Schülerinnen und Schüler stellen Fragen und Astrid Sacher erläutert die Herkunft ihrer grenzüberschreitenden Aussagen, von denen alle in der öffentlichen Debatte der vergangenen Jahre genau so gefallen sind. Nun entkräftet sie sie mit Gegenargumenten und enttarnt die Fake News, denen sie in ihrer Rolle selbst auf den Leim gegangen ist. Und der Neffe Uwe heißt nicht zufällig Uwe, sondern ist angelehnt an Uwe Mundlos und Uwe Bönhardt, die beiden Haupttäter des NSU.
Astrid Sachers Wutbügerlich! ist ein Stück, das verstört, aber auch wachrüttelt. Es sensibilisiert sowohl für offenen Rassismus als auch für den Alltagsrassismus aus der Mitte der Gesellschaft und regt zum Nachdenken an - über das so häufig verletzende Verhalten der Mehrheit gegenüber Minderheiten, auch wenn es doch eigentlich „gar nicht so gemeint“ ist. Es ist eine Aufforderung für all diejenigen, die sich schon länger gegen Rassismus engagieren, weiterzumachen und nicht aufzugeben.
Dieses Stück macht keinen Spaß. Es ist auch nicht lustig. Aber die starken Emotionen, die es bei Schülerinnen und Lehrern auslöste, zeigen deutlich, wie wichtig es ist, dass wir auch dieses unbequeme Thema in der Schule thematisieren. Nicht zuletzt deshalb, weil wir uns als Europaschule und als Schule ohne Rassismus und Schule mit Courage für Weltoffenheit, Völkerverständigung und Toleranz einsetzen.
Das Theaterprojekt „Wutbürgerlich“ des Knirpstheaters Bad Ems wurde am 8. Juli 2021 in der Mensa der Alzeyer Gymnasien vor Schülerinnen und Schülern der Sozialkundeleistungskurse des ELG aufgeführt. Finanziert wurde die Veranstaltung mit Fördermitteln der Landeszentrale für Politische Bildung Rheinland-Pfalz für das Projekt Schule ohne Rassismus - Schule mit Courage und aus dem Preisgeld des EuropaSchulpreises 2020.
Eingestellt von Hillenbrand / Me