"Tee?"
Hinzugefügt am 14. März 2017
Seufzend ließ ich mich auf einen Platz fallen und legte meine Tasche auf den neben mir, um ihn
freizuhalten; eine Angewohnheit, die ich nicht loswurde. Mit einem Geräusch, welches mir
ernsthafte Sorgen bereitete, fuhr der Zug los. Meine Stirn lehnte ich gegen die kühle Scheibe, auf
der mein Atem kleine Wolken hinterließt, die fast augenblicklich wieder verblassten. Die Sonne war
noch nicht aufgegangen, weshalb ich in dem Glas nicht die vorbeiziehenden Felder, auf denen
unberührter Schnee lag, sondern mein Gesicht sah. Meine dunklen Augen guckten mich mit einem
leeren, müden Blick an. Ich hob meinen Kopf von der Scheibe, als mich jemand an der Schulter
berührte. „Entschuldigen sie bitte, junger Mann. Darf ich mich setzen?“, fragte die alte Dame, die
einen halben Meter von mir auf dem Gang stand. Ihr Gesicht wirkte eingefallen und ihre Haut war
so blass, dass es fast so schien, als könnte ich durch sie hindurch sehen, aber ihre kleinen, blauen
Augen strahlten. Am liebsten hätte ich ihr gesagt, dass das nicht ginge, dass ich auf jemanden
warten würde, aber ich log nicht und nahm nickend die Tasche auf meinen Schoß. Dankbar zog die
Alte ein Karamellbonbon aus einer Tasche ihres hellbraunen Mantels, der nach Mottenkugeln und
Scotch roch, und ich griff zögerlich danach. Ich schob es in meine Tasche und versicherte ihr, dass
ich es später essen würde. Mit einem zufriedenen Lächeln ließ die Scotchlady sich auf das Polster
des Sitzes nieder. Ja, so hatte ich sie tatsächlich genannt. Ich war morgens nicht sonderlich kreativ.
Als der Zug quietschend zum Stehen kam, sah ich automatisch zur Tür und erwartete, dass sie
einstieg. Dabei wusste ich kaum etwas über sie. Kopfschüttelnd sah ich wieder weg. Sie würde
nicht kommen, das wusste ich. Trotzdem erwischte ich mich dabei, wie mein Blick zurück zu den
Türen wanderte, die sich gerade mit einem nervtötenden Geräusch schlossen. Und schon wieder ein
Morgen, an dem sie nicht einstieg. Mittlerweile der achtzehnte. Nicht, dass ich mitgezählt hätte.
Das Ganze begann vor etwa drei Monaten an einem Montagmorgen. Wie jeden Morgen versuchte
ich mich dazu zu zwingen, nicht einzuschlafen und trommelte mit meinen Fingerkuppen auf der
Tasche herum, die auf meinem Schoß lag. Für Ende November war es erstaunlich kalt und der erste
Schnee war auch schon gefallen. Das warme Licht der Sonne brach an manchen Stellen durch die
Wolken hindurch und färbte den Himmel orange. Da die Heizung mal wieder ausgefallen war, zog
ich meine Schultern nach oben und umschlang meinen Oberkörper mit meinen Armen, um mich zu
wärmen. Erstaunlicherweise brachte es sogar etwas. Als sich jemand neben mir räusperte, hob ich
den Kopf. „Kann ich mich setzen?“, fragte das Mädchen, was auf dem Gang stand und an dem Ende
ihres grauen Schals herumzupfte. „Klar“, murmelte ich und zwang mich zu einem kleinen,
freundlichen Lächeln. Dankbar lächelte sie zurück und setzte sich mir gegenüber. „Tee?“ Verwirrt
sah ich sie an. „Wie bitte?“ Sie schob mir eine Tasse entgegen. Im Nachhinein betrachtet, war sie
womöglich eine Hexe, denn anders kann ich mir nicht erklären, wie sie diese so schnell auf den
Tisch zwischen uns stellen konnte. Vielleicht war sie aber auch einfach nur verrückt. Denn wer
schleppte schon bitte eine Tasse mit sich herum? „Nein, danke“, beantwortete ich ihre Frage.
Schulterzuckend zog sie ein Buch aus der Tasche, die sie auf den Sitz neben sich gelegt hatte.
Von da an setzte sie sich jeden Morgen zu mir. Jeden Morgen bot sie mir Tee an, jeden Morgen
verneinte ich, jeden Morgen kramte sie dasselbe, staubige Buch hervor. Entweder sie merkte nicht,
dass sie jedes Mal dasselbe las oder sie mochte das Buch. Von dem Titel hatte ich noch nie etwas
gehört, aber scheinbar besaß sie es schon ziemlich lange. Der Einband schien beinahe auseinander
zu fallen und ab und an konnte ich sie dabei beobachten, wie sie eine der vergilbten Seiten zurück
ins Buch legte, weil sie herausgefallen war. Wenn ich so darüber nachdenke, haben wir nie viel
gesprochen. Nur ihren Namen hatte sie mir an dem selben Morgen verraten, an dem ich das erste
Mal ihren Tee trank. „Ich habe auch Zucker.“ Das hatte sie damals gesagt und eine durchsichtige
Plastiktüte über den Tisch geschoben, in der sich ein paar letzte Zuckerstücke befanden. Ich hatte
abgelehnt. Meiner Meinung nach konnte man sich, wenn man etwas süßes, warmes trinken wollte,
gleich eine Limonade in die Mikrowelle stellen. Danach hatten wir, wie sonst auch immer, kaum
noch ein Wort gewechselt, aber dennoch genoss ich ihre Gesellschaft.
Bis sie eines Morgens vor achtzehn Tagen – nicht, dass ich mitgezählt hätte – nicht auftauchte. Die
Heizung war endlich wieder repariert worden, aber ich fror trotzdem, ganz egal, wie hoch ich meine
Schultern zog. Den Morgen darauf starrte ich die Tür auch vergebens an. Nach einer Woche suchte
ich sie im Telefonbuch und nach zwei Nächten und dreiundvierzig Anrufen gab ich auf. Nicht, dass
ich mitgezählt hätte.
Als die alte Dame mir gegen den Arm klopfte, schreckte ich aus meinen Gedanken hoch. „Sie
müssen doch hier raus, nicht?“, fragte sie. Ich sah aus dem Fenster, da es mittlerweile nicht mehr
stockfinster war, und stellte fest, dass sie Recht hatte. Mit dem ehrlichsten Lächeln, das ich
aufbringen konnte, bedankte ich mich. Die Dame winkte ab. „Nichts zu danken“, meinte sie,
während sie aufstand und ein Stück zur Seite ging, damit ich an ihr vorbeigehen konnte. Ich nickte,
nahm meine Tasche und lief an ihr vorbei, um auszusteigen.
Um ehrlich zu sein hatte ich erwartet, sie nie wieder zu sehen, aber am nächsten Morgen bewies sie
mir, dass ich falsch lag, indem sie mich wieder antippte. Am darauffolgenden Tag kam sie wieder
und ehe ich mich versah, schenkte sie mir jeden Morgen ein Karamellbonbon und erzählte mir von
ihrem gestrigen Tag. Nach drei Wochen aß ich das erste und letzte Mal das Karamellbonbon,
welches sie wohl zur Feier des Tages bei der Erfindung des Rades gekauft hatte. Der Geschmack
erinnerte mich an Staub und zwei Stunden später saß ich mit höllischen Schmerzen beim Zahnarzt,
aber immerhin hatte sie es gut gemeint. Nach zwei weiteren Wochen waren ihre Bonbons wohl leer,
weshalb sie neue kaufte. Vermutlich die beste Entscheidung, die sie in ihrem zweiundneunzig Jahre
langen Leben getroffen hatte.
Erst später begriff ich, dass es manchmal wichtig ist, dass Wege sich trennen, damit andere sich
kreuzen können. Und wer hätte gedacht, dass sie mir ein halbes Jahr später ihre Enkelin vorstellt,
die mir schon sehr lange nicht mehr gegenüber gesessen, ihren Tee getrunken und ein Buch gelesen hatte.
Eingestellt von Johanna, 8a